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„Schubladen sind zum Öffnen da.“ Interview mit Gisela Röpcke über ihre Depression




Gisela Röpcke, sie ist nicht nur meine Mutter, sondern auch Künstlerin, Schauspielerin und Mediatorin für Kinder an einer Leipziger Grundschule.

Als gelernte Physiotherapeutin erhielt sie mit ca. 45 zum ersten Mal die Diagnose Depression. Heute nennt sie sie Pechfass, Leere, schwarze Dame, schwere dunkle Decke.

Am Sterbebett ihres geliebten Ehemannes Axels und mittendrin in einer schweren depressiven Episode, entschied sie sich bewusst fürs Leben.


Es erfüllt mich mit unfassbar großer Dankbarkeit, dass ich heute dieses Interview mit ihr führen darf.


(Achtung: Triggerwarnung Suizidalität)

 

Inhaltsverzeichnis

 

Stell dich kurz vor? Wer bist du? Wo lebst du? Was machst du?


Ich liebe meinen Namen Gisela, auf den ich seit 69 Jahren höre. Ich bin die Wegbegleiterin von Karina, als Mutter und lebe in meiner Lieblingsstadt Leipzig. Seit 7 Jahren bin ich in der Theatergruppe „Selbst & Los“ und jetzt ein Teil des Projektes der Kulturbummler. Ich bin die Kunst in der Kunst - schreibe, singe und tanze gern. Seit zwei Jahren arbeite ich im Ehrenamt als Mediatorin in an einer Leipziger Grundschule.


Du hattest eine Depression. Fällt es dir leicht, deine Erfahrung zu teilen?


Über die Erfahrung der Krankheit zu sprechen fällt mir jetzt leichter und das Wort Depression löst in mir Wut und Unbehagen aus. Ich nenne sie eine kollektive schwere Decke nicht gelebter oder überbewerteter Gefühle.


Was meinst du genau damit?


Das Wort Depression bedeutet Druck. Unter meiner Wut ist die Trauer verborgen, dass so viele wunderbare Menschen, in meinem Umkreis in ihrem Teufelskreis verharren und aus dieser negativen Spirale nicht herausfinden.

Ich habe für mich erfahren, dass wenn du Entscheidungen triffst, es genauso ein langer Prozess ist, wie darin stecken zu bleiben. Heute habe ich das Gefühl, mit meiner Freude nicht gehört zu werden. Und das macht mich wütend.


Wann hast du das erste Mal gemerkt, da stimmt etwas nicht?


Es standen viele neue Ereignisse an und ich war überfordert.

2002 verstarb mein Vater, 2004 die Mutter. Im Dezember 2004 zog mein Lebensgefährte nach Leipzig. Dazu kamen betriebliche Veränderungen. Karina begann ihr Studium in Schneeberg. Beim Umzug meines Lebensgefährten stand ich schon neben mir.

Nach einem Vortrag über Nahtoderfahrung wurde mir das Tor zur Dunkelheit eröffnet.


Die Depression ist eine Erkrankung. Das Stigma der Depression ist: "Betroffene sind faul oder demotiviert. Sie müssen sich nur aufraffen." Dies ist falsch und die Antriebslosigkeit ist der Depression geschuldet. Wie hast du diese Zeit für dich empfunden?


Für mich war es eine Leere, ein seelisch-schweres Ausruhen.


Wenn du mir die Frage stellst: "Was ist eine Depression?", würde ich Folgendes antworten:

Die Depression liegt wie eine schwere dunkle Decke über vielen verschiedenen Krankheitsbildern. Für mich ist sie eine Massenhypnose der negativen Erfahrungen. Die eigenen Gefühle werden unterdrückt oder überbewertet.

Es ist das Pechfass, ist die Leere, ist ein zugehangener schwarzer Vorhang in der Sichtweise und Wahrnehmung. Verwirrungen. Starre. Prokrastination. Immer wiederholende Verhaltungsmuster in Worten und Gedanken. Der sogenannte Teufelskreis.

Es gibt auslösende Ereignisse und der Leidensdruck ist noch nicht stark genug, um die Entscheidung zurück zum Leben zu treffen. Die Depression hat einen Nutzen: Sie will versorgt und die Verantwortung muss nicht übernommen werden. Für mich war es ein Haben-Status.


Wie ging es dir während der depressiven Episoden?


Ich arbeitete als Physiotherapeutin in der orthopädischen Klinik. Heute ist sie eine Klinik für Psychotherapie. Durch meine Sehbehinderung war für mich die Arbeit am Computer schwierig und die Arbeit in der Frauenklinik später beängstigend und lähmend. Es folgten Aufenthalte in der Tagesklinik, drei Suizidversuche und weitere längere Krankenhausaufenthalte in Schkeuditz und im Park-Klinikum Leipzig. In mir war es leer und ich schwieg. Wen sollte ich belasten mit dem täglichen Teufelskreis sich zu Töten? Ich war sprachlos, meine Sichtweise ein kleines Dreieck und für die Familie war ich taub.


Wie war dein Schlaf zu dieser Zeit? Wie war dein Appetit?


Ich konnte lange und tief schlafen. War in den Bewegungen ausgebremst. Mein Lebensgefährte war liebevoll. Selbst mit einer Kinderlähmung geschlagen. Wir waren trotz dieser Schwere unserer Bindung viel unterwegs. Besuchten Theater, Ausstellungen und waren oft im Garten. Er motivierte mich, so gut er konnte. Hunger verspürte ich nie. Ich hab zuerst viel Gewicht verloren und durch die Medikamente innerhalb kürzester Zeit fast 25 Kilogramm zugenommen.


Eine weitere Diagnose lautete "Bipolar". Magst du aus deiner Sicht erklären, was das bedeutet?


Mein Leben war geprägt von Diagnosen, aus denen ich mich immer wieder herausgekämpft habe.

Diagnosen geben zuerst Sicherheit. Heute sind sie für mich Bewertungen, wie Urteile. Es sind Schubladen, die ich brauche, um zu wachsen.


Hattest du therapeutische Unterstützung?


Ich war bis 2014 in psychiatrischer Behandlung, mit Medikamentenversorgung.

Eine Psychotherapie-Stunde endete mit den Worten: „Wenn sie nicht mit mir reden, kann ich in Urlaub gehen.“


Wie hast du den Weg herausgefunden? Gab es etwas oder jemand, der dir dabei geholfen hat?


"Depression ist die Belohnung fürs Bravsein." -Marshall B. Rosenberg*

Für mich sind das die wichtigsten Fragen. Für die „schwarze Dame“ gibt es Ereignisse, dass sie erscheint. Und es gibt ein weiteres Ereignis, wodurch Akzeptanz, Heilung und Wachsen oder Aufwachen beginnt. Bei mir war es die Entscheidung gemeinsam mit dem Arzt meinen Mann gehen zu lassen. Er war in der dunklen Zeit immer für mich da und er ist ebenso das Licht in der Zeit des Aufwachens.

Wie viel Ohnmacht und Kraft es die Menschen gekostet hat, die mich lieben, konnte ich erst durch den Rückblick auf mein Leben sehen.


Da waren Verlustängste und das Gefühl, nicht zu genügen.


Diagnosen und Medikamente sind Stützen. Hilfe als Selbsthilfe. Es bedarf die Akzeptanz der Gefühle, um die eigenen Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Die Bedürfnisse sind nicht von einer Person, einem Ort, einer Handlung und Zeit abhängig.

Die Medikamente setzte ich eigenständig ab, als ich meiner Körpergefährtin (meinem Körper) mein Vertrauen schenkte. Heute lebe ich medikamentenfrei.


Die Selbsthilfegruppe "Lebenszeitgewinn", die mir viele Jahre Verständnis und Halt gegeben hat, versuche ich loszulassen.

Für mich ist auf der Bühne stehen, Präsent sein, Stimme zeigen beim Spiel und Improvisieren besser als jede Therapie.

Zeichnen, Tanzen und Singen und das Vertrauen und die Sicherheit, die ich den Kindern in der Schule schenken darf, ist für mich Freude, Liebe und Motivation.


Wie geht es dir heute?


"Wir sind 5, wie Finger an der Hand. Wir sind 5, wie Zehen am Fuß. Ich bin die Mitte, die Mitte bin ich. Zwischen Himmel und Erde steh' ich. "

Das war mein erstes Lied, welches ich meinen vier Geschwistern gewidmet habe. Durch die Kreativität verarbeite ich meine Geschichte.


Heute fühle ich mich verbunden und in Sicherheit. Ich kann Karina und andere Menschen begleiten. Gefühle wollen gefühlt werden. Ich bin dankbar für Konflikte, an denen ich lerne und wachse. Ich habe gelernt NEIN zu sagen und meine Körpergefährtin und ich sind ein Team.

Meine Nächte sind kurz, zwei meiner Freunde, die mit mir durch gute und schlechte Zeiten gehen sind genug. Ich schaue nach den Stärken der Menschen von Herz zu Herz.

2020 kam ich zum ersten Mal mit der Gewaltfreien Kommunikation in Kontakt. Mit ihr und durch die Arbeit als Mediatorin darf ich Kinder begleiten und lerne immer weiter dazu.

Das Leben ist Motivation und Leidenschaft. Kunst und Kultur sind für mich lebenswichtig.


Kannst du heute sagen, dass die Depression im Rückblick ein Wendepunkt in deinem Leben war?


Auf jeden Fall. Ohne die Depression wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.


Was empfiehlst du Menschen, die an einer Depression oder bipolaren Störung erkranken?


Betroffene und Angehörige können sich über Erkrankungen informieren. In Leipzig gibt es ein starkes Netzwerk, das Bündnis gegen Depression e.V.

Hier beraten Betroffene, Betroffene.


Ich empfehle ihnen, dass sie mit den Händen etwas tun.

Das Projekt "Kulturbummler" bietet zum Beispiel in Leipzig Angebote für Betroffene. Dazu gehören zwei Theatergruppen, eine Zeichengruppe, eine Musikgruppe (in der sie Instrumente spielen oder singen können), eine Gruppe, in der Fahrradtouren unternommen werden, eine Lauf- und eine Tanzgruppe.

Das alles sind Selbsthilfegruppen, bei denen sich Gleich-Betroffene untereinander austauschen und unterstützen können. Manchmal etwas aktiver, manchmal etwas kreativer.


In kleinen Schritten, geht jeder seinen eigenen Weg. Wenn wir verbunden sind, wird er leichter.


Und was können aus deiner Sicht Angehörige tun, um zu helfen?


Dasein. Aktives Zuhören.


Gibt es noch etwas, was du gerne hinzufügen möchtest?


Danke für die Fragen und Schubladen sind zum Öffnen da.



Mutter und Tochter: Gisela und Karina Röpcke
„Der Lohn fürs Bravsein ist die schwarze Dame.“ - Das Foto von meiner Mutter und mir entstand am 24. August 2021 nach einem Ausflug nach Thüringen

 

Anmerkung


Depression kann jeden treffen!


Im Laufe des Lebens kommt fast jede (r) als nahestehende Person oder sogar als Betroffene(r) mit dem Thema in Berührung.

Die Depression ist eine schwere psychische Erkrankung und ist gekennzeichnet durch Antriebslosigkeit, Interessenverlust, Hoffnungslosigkeit, Verlust der Freude und einer gedrückten Stimmung.

Sie wird in leicht, mittel und schwer eingeteilt. Betroffenen fühlen sich teilweise wie gelähmt, haben oft keinen Appetit, Schlafstörungen und Libidoverlust.


Im Interview wurde auch die bipolare affektive Störung erwähnt. Das bedeutet, das ein Mensch einerseits depressive Phasen durchlebt und plötzlich kommt es zum Kippen der niedergeschlagenen Stimmung und es geht in die entgegengesetzte Richtung. Diese „Hochphase“, die Manie ist voller Tatendrang und Power. Für Betroffene und Angehörige werden diese extremen Stimmungsschwankungen als besonders belastend empfunden. Es kommt nicht selten vor, dass während der Manie große Geldsummen ausgegeben werden. Größenwahn und eine gesteigerte Libido sind weitere Merkmale einer Manie. Oft wird der Schaden, der in der mansichen Phase entstanden ist, den Betroffenen erst im Nachinein schmerzhaft bewusst.


Wie du im Interview mit meiner Mutter erfährst, ist das schlimmste Symptom der Depression, der Verlust der Lebensfreude. Todesgedanken, Suizidimpulse und Suizidversuche machen die Erkrankung lebensbedrohlich.

Wenn du selbst merkst, es geht dir über längere Zeit nicht gut, wenn du leidest, bitte lass es einmal mehr abklären und geh zu deinem Hausarzt oder zu einem Psychologen.

Falls du jemanden kennst, der Hilfe benötigt, findest du viele Informationen bei der Deutschen Depressionshilfe.


Und ganz wichtig: Bitte nimm Suizid-Androhungen ernst!


Du möchtest mehr über die Erkrankung Depression wissen? In diesen Blogartikeln findest du weitere Informationen.


Wichtige Aufklärung über die bipolare Störung findest du auf der Seite der deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. .



Pass auf dich auf! – deine Karina




*Das provozierende Zitat: "Depression ist die Belohnung fürs Bravsein." stammt von Marshall B. Rosenberg, einem US-amerikanischen Psychologen und dem Begründer der Gewaltfeien Kommunikation (GKF).

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